Ausland

Eigentlich wollte ich darüber schreiben, wie schön es in Indien war

Ich sitze im Flieger nach Afrika.

Wie sehr mich mein Auslandsdienst in Indien verändert hat? Äußerlich sehr, innerlich noch mehr. So sehr, dass ich mich jetzt entschieden habe, ein halbes Jahr auf eigene Kasse nach Afrika zu reisen und dort in einem Lepradorf zu arbeiten. Spannung. Spannung auf das, was mich erwartet, im Positiven wie im Negativen. Gleich wie vor 13 Monaten im Flieger nach Delhi. Ungewissheit, was genau mich erwartet, auf was genau ich mich da eingelassen habe. Doch dieses Mal fühle ich mich entspannter. Die Erfahrungen aus Indien holen mich in meinen Gedanken ein. Alles, was ich mitnehmen konnte in diesem letzten Jahr, wird mir jetzt so richtig bewusst. Und ich freue mich, so etwas (ähnliches) nochmal erleben zu dürfen.

Ein Jahr im Ausland schickt einen quer durch alle Gefühlslagen. Herausforderungen sind da, um an ihnen zu wachsen – ein schöner Spruch, wenn man Hand-große Spinnen im Badezimmer hat. Aber es gibt niemanden, den man mitten in der Nacht um Hilfe fragen kann. Nicht in den ersten paar Tagen, nicht, bis man sich traut. Sich trauen… „So etwas wie du würde ich mich nicht trauen“, war ein Satz, den ich immer öfter gehört hatte, desto näher meine Abreise rückte. Sich trauen, in den Flieger zu steigen, ist nicht die Herausforderung. Oder doch? „Oft fällt uns erst auf, dass ein Moment im Leben entscheidend war, wenn er schon vorbei ist“, hab ich mal in einer Serie gehört. Selten habe ich einen Spruch gefunden, so passend. Vor zwei, drei, vielleicht vier Jahren habe ich in der Zeitung von einem Zivildiener in Kambodscha gelesen. „Wär doch was“, hab ich mir gedacht. Zur gleichen Zeit gingen einige Verwandte für ein paar Wochen nach Nepal, zum Bergsteigen im Himalaya, und erzählten fasziniert davon bei der Rückkehr. Zur gleichen Zeit schlug ein Freund vor, in der Schule das Buch „7 Jahre in Tibet“ zu lesen. 450 Seiten. Kaum einer hatte Lust darauf, doch der Lehrer entschied, wir sollten es lesen. „Oft fällt uns erst auf, dass ein Moment im Leben entscheidend war, wenn er schon vorbei ist“ – Schicksal. Wie man es auch beschreiben möchte, das Ergebnis ist dasselbe.

Ich sitze im Flieger in den Senegal. Es würde nicht viel Sinn machen, jetzt anzufangen, darüber zu schreiben, was ich alles erlebt habe. „Ich könnte jetzt stundenlang erzählen“, ist mittlerweile meine Standardantwort, wenn mich jemand fragt: „Und, wie war’s?“. Die obligatorische 3-Erlebnis-Aufzählung wäre: Holi in Indien ist das beste religiöse Fest, das ich je erleben durfte, die Menschen im Kashmir-fast-Kriegsgebiet sind die gastfreundlichsten, die ich kennenlernen durfte und irgendwas mit tibetischen Flüchtlingen. „Schau dir das mal an, was in Tibet passiert.“ „Informier dich mal, warum es tibetische Flüchtlinge überhaupt gibt.“ Die Motivation dahinter ist stets, Leute darüber aufzuklären, was es mit Tibet auf sich hat. Wie viele ich tatsächlich damit erreichen kann? Ich weiß es nicht. Aber gar nicht ansprechen ist auch keine Option. Nicht, nachdem ich fast ein Jahr mit tibetischen Flüchtlingen zusammengelebt, zusammengearbeitet habe. Sie mir von ihren persönlichen Erlebnissen erzählt haben, und manch einer seine intimsten Geschichten geteilt hat. Nicht, nachdem ich mit dem Präsidenten der Gu-Chu-Sum Association gesprochen habe und in deren Galerie war. Gu-Chu-Sum kümmert sich um aus Tibet geflohene, politische Gefangene. Politische Gefangene, die aufs Härteste gefoltert wurden. Politische Gefangene, die bei ihrer Flucht über den Himalaya, unter Einsatz ihres eigenen Lebens, Bilder aus chinesischen Gefängnissen mitbringen. Bilder, die in dieser Galerie ausgestellt werden. Mittlerweile verstaubt sind. In einem Gebäude, in dem die meisten Mitarbeiter, sogar für indische Verhältnisse, recht gemütlich herumsitzen. Gemütlich oder depressiv, Ansichtssache. Die traurige Wahrheit, sie haben keine Arbeit mehr. Sie sind zwar angestellt und werden bezahlt, doch es gibt keine Flüchtlinge mehr, um die sie sich kümmern könnten. Nach den olympischen Spielen 2008 hat China die Flucht praktisch unmöglich gemacht. Nicht nur, dass es keine unüberwachten Grenzrouten über die hohen Pässe des Himalaya mehr gibt. Wer es nach Nepal schafft, muss damit rechnen, dass jeder, den er zurückgelassen hat, Eltern, Geschwister, Freunde, Großfamilie, alle die gegenseitig darauf aufpassen sollen hätten, dass jeder andere ein treuer Anhänger der Chinesischen Kommunistischen Partei ist, von den Behörden gefangen genommen wird. Gefangen genommen, und in „Re-education-Center“ verschwinden. „Re-education-Center“, ein schönes Synonym für das, was man bei uns vor 80 Jahren noch KZ genannt hätte. Was haben damals die Leute eigentlich dagegen getan? Nichts davon mitbekommen? Das ist doch am anderen Ende der Welt? Was wird unsere Ausrede einmal sein, wenn uns ein junger Bub im Alter unseres Enkels diese Frage stellt? Was wird meine Antwort sein?

Dieser Text ist innerhalb von 20 Minuten entstanden. Eigentlich wollte ich darüber schreiben, wie schön es in Indien war. Es war schön, sehr schön. So schön, dass ich jetzt im Flieger nach Afrika sitze. Und es war das intensivste Schuljahr meines Lebens. Einer Lebensschule, die ich in dieser Heftigkeit nicht erwartet hätte. Nicht nur über die Schönheit des Lebens und der Natur, sondern auch über die manchmal unfassbare Dekadenz des westlichen Lebens. Diese Erkenntnis kommt nicht unmittelbar, nachdem man wieder zu Hause ist, bei manchen kommt sie vielleicht nie. Man sagt „mit Anfang seiner 20er denkt man, die Welt liegt einem zu Füßen“. Ich denke das nicht. Aber ich denke, das Leben liegt einem zu Füßen und wie man sein eigenes gestalten möchte.